Samstag, 29. September 2018

An der Ostseeküste

Kaum verständlich, dass ich hier das Großstadtleben vermissen sollte. Bieten mir doch Damp und die Rehaklinik ein derart buntes Programm.

Das Meer ständig vor Augen, geschäftiges Kommen und Gehen im Yachthafen, heute Abend Bingo, gestern Abend Irish Folk mit Gerry Doyle. Auch wenn es nicht meine Musik ist, war Gerald Doyle aus Tipperary überraschend hörenswert. Leider komplett an der hiesigen Zielgruppe vorbei. Seine Zwischenansagen und Liedtexte hätte er genauso gut auf gälisch, finnisch oder turkmenisch vortragen können; das Verständnis im Publikum wäre ähnlich gering gewesen. Einzig die Aufforderungen zum Schunkeln („A little bit more schunkeling.“) und zum Mitsingen von „Wild Rover“ wurden erhört. Letztere wurde jedoch nur im deutschen „Original“ erfüllt („An der Nordseeküste...“), dann gar begleitet vom obligatorischen Klatschen. 
Was ich in jedem Fall ab übermorgen am Leben in unserem beschaulichen Dorf entspannend finden werde: nicht alle dreißig Sekunden aufspringen zu müssen, weil sich die Farben der See wieder so fotogen verändert haben.





Freitag, 28. September 2018

Jetzt ist aber mal gut!

Heute plagt mich die Sehnsucht. Nach den Liebsten, nach ihren Stimmen, nach körperlicher Nähe, nach der Großstadt, nach Zuhause, ja, selbst nach meiner pütschernden Teekanne. Auf wundersame Weise muss ich an die Werbung einer vor ein paar Jahren großflächig tapezierten Kampagne gegen Erektionsstörungen denken: „Weil Sehnsucht nicht einfach aufhört“. So ist es wohl. Und doch weiß ich, was ich ab Montag alles vermissen werde. Den Zimmerservice, fertige Mahlzeiten, dass ich nicht als Einzige langsam durch die Gegend eiere (obwohl, wie rief mir letzthin eine Rehabilitandin ohne Stützen hinterher, als ich sie auf dem Weg zu einer Behandlung überholte: „Du zitterst aber ganz schön ab auf deinen Krücken!“ Wenn sie meint...), die kreischenden Möwen, ansonsten die Ruhe und natürlich den Blick aus dem neunten Stock. Denn merke: in der Bausünde lebt es sich meist schöner als mit dem Blick darauf.



Donnerstag, 27. September 2018

Scha-La-La-La

Bisher ging ich davon aus, die hiesigen Physiotherapeuten (oder „Psychotherapeuten“ wie die junge Kollegin sagt) wollten nur unser Bestes. Wieso auch nicht? Schließlich sind sie nett, hilfsbereit, zuvorkommend und wohlgelaunt. Doch seit kurzem weiß ich es besser. Seit uns der eine von ihnen - ich nenne hier keine Namen - zur „Erwärmung“ (ein Begriff, den ich bisher nur von Himmelskörpern, nicht von menschlichen kannte; in der schlechten alten Zeit nannten wir es „Aufwärmen“) aus Gründen seine Oktoberfest-Compilation abspielte und ich seit dem in schlafarmen Nächten - also in jeder Nacht - „Wie heißt die Mutter von Niki Lauda? Mamma Lauda!“ in Dauerschleife im Ohr habe. Dagegen ist die Foltermethode aus einem meiner Lieblingsfilme „Eins, Zwei, Drei“, die der arme Hotte Buchholz durchleben muss, ein Streichelzoo.

Dienstag, 25. September 2018

Kleiner Luxus

Oft höre ich von Menschen, deren Schönstes Frühstück im Bett sei. Auch hier in der Reha habe ich diese Meinung schon wiederholt zugetragen bekommen. So sehr ich dem Bett in vielerlei Hinsicht verbunden bin und auch eine durchaus innige Beziehung zu ihm hege, ein Frühstück darin gehört nicht zu meinen Wünschen. Ganz im Gegenteil. Wenn auch verhasst zu viel wäre, doof finde ich es. Die selbst küchenpsychologisch einfache Erklärung: ich habe einfach zu viel Zeit liegend im Krankenhaus verbracht, um bei Mahlzeiten im Bett nicht an Genuss sondern an Notwendigkeit zu denken. Außer irgendwelchen kranken Fetischisten wünscht sich meines Wissens schließlich niemand von Herzen, sein Geschäft im Bett zu verrichten. Mir wäre auch neu, dass die Bettpfanne den gleichen Begehrlichkeitsstatus erreicht hätte wie das Frühstückstablett fürs Bett.
Luxusgefühle stellen sich bei mir ein, wenn ich das Frühstück (mit Ausnahme von literweise Tee) am Wochenende einfach auslasse. Und gleich mit warmem Essen zur Mittagszeit einsteige.

Montag, 24. September 2018

Irgendwie Mainstream

Körperlich ein wenig zurückgeworfen zu sein, kann auch Vorteile in sich bergen. Nun lese ich schon das zweite Buch in Folge, das vom NDR als aktuelles „Buch des Monats“ gekürt wurde. Wenn auch, um den Bahn-Duktus zu gebrauchen, in umgekehrter Reihung. Sollte die August-Empfehlung auf ihre Weise genauso gut sein wie die des Septembers - und davon gehe ich stark aus -, sollte ich überlegen, auch dem Rat der kommenden Monate zu folgen. Bei entsprechendem Lesevergnügen kann es mir egal sein, ganz offenkundig einen literarischen Allerweltsgeschmack zu besitzen. Auf jeden Fall versöhnt mich die NDR-Auszeichnung damit, dass beide Bücher in den von mir genutzten Medien keine Erwähnung fanden. Außerdem mache ich meinen Frieden mit den schlafarmen Nächten, solange ich so lesenswerte Bücher zur Hand habe wie die Premiumlektüre von Gerhard Henschel und Frank Schulz.



Freitag, 21. September 2018

Stormy Weather

Sich auf den heutigen Tag zu freuen, ist nicht ungewöhnlich. Markiert doch der Freitag gemeinhin den Beginn des Wochenendes. Mich allerdings erfreute dieser Tag besonders. Da war zum Beispiel die frohe Erwartung eines weiteren dynamischen Therapietags. Da stand außerdem ein Pediküre-Termin an. Dinge, über die ich mir im Vorfeld nicht so richtig im Klaren war: dass ich nun mindestens ein halbes Jahr nicht mehr an meine Füße heranreichen würde. Willkommen im Leben eines Menschen mit 50+ BMI. Da hilft ein Termin beim Profi ungemein beim Projekt „Menschwerdung“. Da war zusätzlich die Aussicht auf das Abendprogramm „Einführung ins Plattdeutsche“. (Auf den Besuch des Tanzabends mit Bine und Matze konnte ich großherzig verzichten.) Am wichtigsten jedoch: heute gab es die letzte Heparinspritze, die ich mir in den Bauch jagen musste. Wenn das kein Traumfreitag ist!
Doch am allerbesten: ich verpasste daheim die turnusmäßige Eigentümerversammlung. Oder: Wie heißt es doch in etwa bei Asterix? „Sie sind alle so dumm und ich bin ihr Nachbar!“



Donnerstag, 20. September 2018

Hardship in Damp

Noch macht der Ort seinem (englischen) Namen zwar keine Ehre, aber das muss er meinetwegen auch nicht. Mir reichte die fiebrige Aufregung des heutigen Vormittags. Der ewigen Koronargruppen überdrüssig hatte ich vorgestern beim Arzttermin um die Versetzung in die Bootcamp-Therapieform gebeten. Dem wurde stattgegeben. Doch nun machte sich in mir Angst vor der eigenen Courage breit. Sollte sich die „Dynamische Trainingstherapie“ als mieses Schleifen herausstellen? Und ich aus dem akzentuierten „Yes, Sir!“-Rufen nicht mehr herauskommen? Heute Nachmittag kam die Auflösung. Bei besagter Maßnahme, von uns Kennern DTT genannt, handelt es sich um eine zweistündige Trainingseinheit, die durch eine knapp halbstündige Anwendung unterbrochen wird. Angeleitet wird die Gruppe von drei furchtbar netten Physiotherapeuten, die mit Engelsgeduld erklären, nicht mit aufmunternden Worten sparen, wie die Kindergartentante wohlgelaunt beim Schuhean- und ausziehen helfen, und zu allem Überfluss auch noch aus einer großen Schüssel Gummibärchen anbieten. Mit dem Ergebnis, dass ich mich zum ersten Mal seit Wochen traute, ohne Stützen zu laufen (nicht wegen der Süßwaren) und mich  überraschend gut dabei schlug (was nicht nur ich sondern auch der nette Profi fand). Warum habe ich nicht viel früher von dieser Perle des Rehawesens erfahren? Wahrscheinlich, weil ich sie an Tag eins nicht ausreichend zu goutieren gewusst hätte.

Mittwoch, 19. September 2018

Auftragsarbeit

Zurückgeworfen auf die Informationsmedien Welt (Tageszeitung als Teil des Wahlleistungspakets) und ZDF (vorgegebener Tagesablauf) habe ich den Eindruck, neben Personalien beim Verfassungsschutz bzw. Innenministerium wird das Thema „Lesen durch Schreiben“ besonders begierig aufgegriffen. Bestätigt doch die gern zitierte neue Studie genau das, was man hören möchte bzw. ohnehin schon wusste: mit dieser Drecksmethode lernen Kinder keine anständige Rechtschreibung mehr. Seit der Abschaffung des BDM können Mädchen auch keine ordentlichen Zöpfe mehr flechten. Und seit es Staubsauger gibt, kann auch niemand mehr richtig Teppiche ausklopfen. Das Argument, Kinder gewöhnten sich in den ersten beiden Jahren des Schreibens falsche Rechtschreibung an, die sie anschließend nicht mehr aus dem Kopf bekommen, finde ich besonders einleuchtend. Weiß man doch, dass Kinder im Gegensatz zu alten Menschen Änderungen gegenüber so starr wie Brechstangen sind. 
So oder so, alle vorangegangenen Studien, die zeigten, in der Orthografie gebe es keine nennenswerten Unterschiede zwischen den verschiedenen Methoden, verlieren jetzt natürlich ihre Gültigkeit. Weil Welt, ZDF, CDU und die anderen es so wollen. Irgendwie erinnert das Ganze fatal an Mengenlehre.
Was mir an der Argumentation besonders quer liegt, ist die Vernachlässigung des Faktors Spaß. Den werden Grundschullehrer mit immer heterogeneren ersten Klassen (ein Teil Kinder stark frühgeförderter Kinder, ein Teil eher vernachlässigter Kinder, ein Teil Kinder mit anderen Muttersprachen) mit einer Fibel garantiert nicht haben. Der wird auch all‘ den Kindern abgehen, die sich wochenlang - obwohl zum Teil seit Jahren befähigt - mit „Fara ruft Fu“ oder ähnlichem Schwachsinn abgeben müssen. Ein Teil gelangweilter, herumkaspernder Schüler wiederum erhöht die Unterrichtfreude der Lehrer bestimmt auch nochmal um ein Vielfaches. Aber um Spaß geht es ja bekanntlich nicht. Niemals.

Dienstag, 18. September 2018

Back to 1990

Nachdem ich dem dubeligen e-Reader nun doch alle fünf Teile (vollständig!) der Cazalets abtrotzen konnte, belohne ich mich nun zusätzlich mit dem neuen Gerhard Henschel. Das bedeutet, ich befinde mich aktuell im Sommer 1990. Auch eine Form des Eskapismus‘. Es ist schön, bei dieser Buchreihe langsam zu Zeiten vorzudringen, in denen auch das eigene Leben mehr bereit hielt als Schule, Hausaufgaben, Mag-er-mich? oder Mittagessen.
Ich habe die dunkle Erinnerung, mich zur Währungsunion am 1. Juli 1990 mit meinem damaligen Freund  - oder: „mein damaliger Ex-Freund“ wie meine jugendliche Mit-Rehabilitandin zu sagen pflegt - an der Ost-Ostsee befunden zu haben. Auf dem Darß. Es war ein Wochenende. Alles, von Unterkunft bis Sprache, war wunderbar zonal. Die Servicekräfte verstanden zwar bestens den Umgang mit der neuen West-Mark, fanden es aber übertrieben, für diese auch Leistung zu erbringen oder gar freundlich zu sein. Die Sonne schien und die Ostsee schwapperte gemächlich vor sich hin. Im Grunde alles wie zu Hause in Berlin.
Eine weitere Erinnerung an jenen Sommer ist - wie sollte es anders sein - das Finale der Fußball-WM. Nach dem Spiel wollte ich zu besagtem, damals amtierenden Freund fahren, der in Spandau lebte. Da ich auch damals noch nicht hundertprozentig wieder von einer Hüftoperation genesen war, fuhr ich von Kreuzberg mit dem Auto dorthin. Der Weg führte mich über die Budapester Straße am Breitscheidplatz vorbei. Dort staute sich der Verkehr wegen der Autokorsos und des tobenden Mobs. Besoffene Trikotträger versuchten unter anderem auch mein Auto durch ihr nicht unerhebliches Lebendgewicht ins Wippen und Kippen zu bringen. Gruselig. Damals beschloss ich wegen dieser Penner, nie wieder solle Deutschland Weltmeister werden. 2014 revidierte ich meinen Beschluss, weil ich dachte, seitdem sei vieles besser geworden. Wie man sich täuschen kann.

Montag, 17. September 2018

Beobachtungen

Mein Zeug aus den letzten Wochen war deutlich zu selbstzentriert. Diese Schweinerei muss eine andere werden. Deswegen lasse ich lieber an meinen Erkenntnissen der letzten Tage teilhaben.
Es scheint - zumindest hier im Norden - eine relativ hohe Korrelation zwischen Reha-Aufenthalt und harter Musik zu geben. Selten habe ich eine derartige Häufung von Iron Maiden-, Metallica- und Wacken-Shirts gesehen wie im Foyer oder Speisesaal des Haus‘ Passat der Helios Rehaklinik Damp. Unter den hiesigen Wacken-Fans dominieren übrigens die Jahre 2013 und 2014. Wahrscheinlich sind Heavy Metal-Fans qua Namen Endoprothesen-affin. Schade nur, dass das interne Metall nicht so richtig rasseln will.
Eine weitere Beobachtung aus meinem aktuellen Umfeld: Orthopäden scheinen Patienten deutlich lieber künstliche Gelenke einzubauen, als ihnen die Wahrheit über ihr Übergewicht zu sagen. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich darin, dass der Arzt an ersterem verdienen kann, während er bei letzterem ziemlich häufig Patienten verliert.
So. Wenn das nicht viel außenorientierter ist, dann weiß ich auch nicht.

Sonntag, 16. September 2018

What is a Weekend?

Es ist soweit. Meine Anpassungsfähigkeit stößt an ihre Grenzen. Nicht, dass ich Ruhe oder gute Laune hätte aufgeben müssen, als ich gestern beim Bingoabend wiederholt erklären musste, was waagerecht und senkrecht bedeuten (von diagonal wollen wir gar nicht sprechen). Nicht, dass meine schon fast asiatische Gesichtsbeherrschung verloren gegangen wäre, als ich mehrfach Worte wie “Endoprothese” nahebringen musste. Obwohl ich gedacht hätte, das Wort begegne uns, die wir nun welche haben, in ausreichender Frequenz, um spätestens jetzt auch den Sinn zu entnehmen.
Nein, es ist eher die (ernst gemeinte) Aufforderung meiner jugendlichen Kollegin, heute Abend gemeinsam das Konzert zu besuchen, das wie folgt angekündigt wird:
“19:30 - 21:00  Das Akkordeonorchester Eckernförde (bis hierhin fett gedruckt) präsentiert Ihnen ein Konzert der Extraklasse. Viel Spaß. Der Eintritt ist frei.”
Ich glaube, ich werde den Tatort vorschützen. Auch wenn ich mir NIE einen mit Meret Becker ansehen werde.
Immerhin musste ich anders als ein Kollege hier noch nicht die Fassung verlieren. Er bekam als gelernter Tischler eine Ergotherapiestunde verordnet, in der er lustige Laubsägearbeiten anfertigen sollte. “Die hamse doch nicht alle! Ich geh’ zum Arzt und beschwer’ mich!” So geht’s natürlich auch.

Samstag, 15. September 2018

Wochenende

Seit heute 8:30 Uhr habe ich Freizeit. Im besten Fall ungewohnt, samstags rechtzeitig zum Frühstück um 7:00 Uhr aufstehen zu müssen, um dann um 8:00 Uhr ein bisschen Physiotherapie Hüftgruppe zu absolvieren und kurze Zeit später ins Wochenende entlassen zu werden. Insgesamt scheint meine Vorstellung, man müsse sich in einer Reha hauptsächlich körperlich anstrengen, nicht ganz den Tatsachen zu entsprechen. In Wirklichkeit nimmt die geistige Anstrengung einen viel größeren Part ein. Da ist zum einen das Problem, beim Aufeinandertreffen mit Mit-Rehabilitanden (letzteres neu gelernte Vokabel) zielsicher geeignete Platitüden abzurufen (“Man muss ausreichend trinken.”; “Haben Sie heute auch so viele Anwendungen?” etc.). Zum anderen ist meine jugendliche Kollegin nicht davon abzuhalten, gemeinsam mit mir am heutigen Bingoabend (“Frau Meierkord freut sich auf Ihren Besuch.”) teilzunehmen. Nun musste ich - schließlich durfte ich mir keine Blöße geben - erst einmal auf Wikipedia nach den Regeln gucken. Ist immerhin mein erstes Mal. Ich glaube jetzt allerdings, das Regelwerk lässt sich beherrschen. Scheint nicht Bridge oder Cricket zu sein.
Doch nun heißt es erst einmal, sich sputen fürs Abendessen!



Donnerstag, 13. September 2018

Wird schon

Der heutige Tag hält einige positive Wendungen bereit.
Erstens: Ich durfte zum ersten Mal „ins Wasser“ (Bewegungsbad Hüftgruppe). Am Ende war das Aus- und Anziehen anstrengender als die Wasserspaddelgruppe, aber was soll‘s, das gute Gefühl bleibt. Warum man an einem Ort, an dem sich zu einem Gutteil Menschen mit frisch operierten Knien und Hüften befinden, Bänke in der Umkleidekabine allesamt knapp oberhalb der Fußleiste anbringt, wird wohl ein ewiges Mysterium bleiben. Stattdessen wird jedoch ständig von allen - Personal wie Patienten - darauf hingewiesen, wegen Bauarbeiten gebe es aktuell nur gemischte Umkleiden. Diverse Patientinnen belastet dies sehr. Wenn ich mit meinem angegangen Körper derzeit noch zum Objekt der Begierde mutieren kann, finde ich das eher selbstwertsteigernd.
Zweitens: Der neue Gerhard Hentschel kommt nun doch früher als geplant. Wenn‘s klappt sogar hierher ins Rentnerparadies. Das trifft sich umso besser, als mein dubeliger e-Reader heute Nacht mitten in Teil vier einer Pentalogie (gibt’s das?) seinen Geist aufgegeben zu haben scheint. Jetzt weiß ich nicht, wie es mit Edward und Diana oder Archie und Clary weitergeht.
Drittens: die Sonne scheint. Jetzt fühlt es sich wirklich ein wenig wie Sommerfrische an. Vielleicht sehe ich bald schon nicht mehr ganz so blass aus.



Mittwoch, 12. September 2018

Doch anders

Die Erkenntnis des letzten Tages: es gibt sie vereinzelt doch, die Nicht-Grauhaarigen! Vielleicht nicht unbedingt die Gleichgesinnten, aber doch die Jüngeren. Gestern lernte ich eine junge Frau kennen, deren linke Hüfte im Ursprungszustand wohl ähnlich zermörsert war wie meine rechte. Auch sie freute sich sehr über die Frühstücks-Frühschicht zwischen 7:00 und 7:45 Uhr. Jetzt suchen wir beide nach einem 80+-Tauschpartner, der ohnehin mit den Hühnern aufsteht. Eigentlich sollte daran kein Mangel herrschen. Ansonsten wunderte sie sich, dass ihr das geschulte Medizinpersonal  - Arzt wie Schwestern - nicht sagen konnte, ob sie jetzt wieder die Pille nehmen dürfe; ja, man nicht einmal die Frage verstand. Immerhin, meine Erklärung, es liege wohl daran, dass „hier alle drüber seien“, amüsierte sie. Beruhigung konnte ich ihr außerdem verschaffen, als sie erklärte, wie peinlich es ihr sei aus der Not heraus eine GNTM-Jogginghose mit aufgedrucktem pinken Highheel zu tragen: „Das erkennt niemand; hier ist keine ProSieben-Zielgruppe anwesend.“

Dienstag, 11. September 2018

Außer der Belegschaft - alles neu

Heute also der erste Tag mit Programm. Da ich bekanntermaßen zu den Menschen mit einem zeitigen Biorhythmus gehöre, hat man mir für die kommenden drei Wochen meine Lieblingszeiten für den Speisesaal zugedacht. Frühstück ist von 7:00 bis 7:45 Uhr  - und der Rest geht entsprechend super weiter.  Heute stand im Anschluss die erste Physiotherapie an. Meine Therapeutin ist eine etwa 1,50 m große Dame mit kurzem grauen Haar, die sich vom Rest der Mannschaft nur wegen ihrer Verkleidung und ihres kritischen Blicks ob des Gangbildes anderer abhebt. Ansonsten scheint sie vor allem betulich und humorlos. Auch das meine Lieblingskombination. Wahrscheinlich hat sie ein paar zusätzliche Falten, weil ihr der neue Jobtitel „Physiotherapeutin“ viel weniger passt als die gute alte Krankengymnastin.
Danach diverse Info-Veranstaltungen, deren Informationsgehalt deutlich unter monatlichen Kita-Elternabenden liegt. Schön immerhin die Frage einer Kollegin, ob denn „im Schwimmbad Grabscher seien“. Gerade als ich noch auf der sexistischen Antwort „Darum müssen Sie sich bestimmt keine Gedanken machen“ herumdachte, wurde mir klar, was sie meinte: den Greifer, mit dem Menschen nach Hüft-TEP-Operation alles „unter Kniehöhe“ angeln oder ergattern können. 
Im Anschluss an diesen Krachertermin die Koronargruppen, die sie hier „Physiotherapie Hüftgruppe“ oder „Physiotherapie Gruppe“ nennen. Bleiben also nur noch die hohen Erwartungen an die Manuelle Lymphdrainage. A propos, die ohnehin nicht allzu geistreiche Idee eines Kurschattens muss aufgrund des aktuellen Materials unbedingt verworfen werden.



Montag, 10. September 2018

Dorftausch

Nun heißt es, das beschauliche Dorf gegen ein anderes, auf jeden Fall unbekanntes, vielleicht trubeligeres Dorf einzutauschen. Zu diesem Behuf holte mich ein etwas überforderter Mann mit VW-Bus ab, den die Kinder - passend wie ich fand - in die Kategorie „Bademeister“ einsortierten. So beschaulich unser Dorf auch sein mag, seine Verkehrsführung (!) ist es nicht. Dreimal musste der arme Bademeister ums Karree fahren, um den Weg zu und zu finden. Damals, in der schlechten alten Zeit, als man des Freierverkehrs nur durch undurchsichtige Einbahnstraßenregelungen Herr werden konnte, wurde wohl der Grundstein für die allgemeine Verwirrung gelegt. 
Schließlich war ich gut im mittleren Teil des Fahrzeugs untergebracht und Fahrt wie Konversation konnten beginnen. Nachdem sich der nette, norddeutsche Bademeister ausreichend darüber ausgelassen hatte, wie viel schwieriger unser Dorf als seines sei (1:0 für meine Standortkenntnisse), konnte er sich nach meiner Kenntnis über seine Heimat erkundigen. Ob ich schon mal in Damp gewesen sei. Ich verneinte. „Nu, dann ward dat aber Tied.“  Mal sehen, ob er recht hat.

Sonntag, 9. September 2018

Tag des offenen Denkmals

Heute marodieren ausnahmsweise keine Schüler und Abendschüler an unserem Haus vorbei. Heute sind eher ältere Semester in unserem Haus unterwegs. Meinen doch vereinzelte Nachbarn, wir müssten uns der Verantwortung stellen, in einem denkmalgeschützten Gebäude zu wohnen. Verpflichtung hat nun mal nichts mit Freude zu tun. Heute gaffen also Ströme von leberwurstgrau gekleideten Paaren mit vernünftigem Schuhwerk in unsere Fenster. Normalerweise bin ich - im Gegensatz zum Sohn - nicht für übertriebenes Wahren  unserer Privatsphäre bekannt, aber mitleidige Blicke kulturbeflissener Menschen aus dem dicken Teil der umgedrehten Bevölkerungspyramide, die außerdem vergeblich nach einem Eingang suchen, sind mir auf Dauer doch lästig. Leider kann ich ihnen nicht entfliehen. Dieses Ansinnen nach Privacy (unbedingt posh-englisch und nicht amerikanisch auszusprechen, um den Sohn auf die Palme zu bringen) findet der Sohn nicht erklärlich, wenn ich doch ansonsten die Anschaffung/Anbringung von Jalousien oder wenigstens Vorhängen in Küche und Wohnzimmer als Blödsinn abtue. 
Vielleicht wirklich nicht nachvollziehbar. Ich bin mir noch nicht sicher, ob es tausend Geisterfahrer sind oder ob ich einer bin. Nach dem Vorschlag einer anderen Nachbarin, unsere vor Jahrhunderten am Henkersplatz (!) als Erinnerung gepflanzte Blutbuche in „Menstruationsbuche“ umzubenennen, denke ich eher Ersteres.

Freitag, 7. September 2018

Endlich weiß ich‘s

Was ich bisher nicht wusste: wie gut es mir geht.
Der Sohn findet, ich sei „privilegiert“, dass ich die ganze Zeit auf oder in dem bequemsten aller Betten liegen dürfe. Und dazu noch Fernsehen könne. Obwohl ich das beklagenswerterweise nicht ausnutze. 
Man lernt so viel von seinen Kindern! Wie gut, dass ich auch etwas zurückgeben kann: ab Montag kann ich die Privilegien an ihn weiterreichen. Wahrscheinlich wird mir auch dann erst bewusst, was ich Tolles hatte.

Donnerstag, 6. September 2018

Vorbereitungen

Spätestens jetzt ist wohl höchste Zeit, aktiv zu planen. Oder wie die bedingt freundliche Dame der Rentenkasse meinte: „Fangen Sie mal an zu packen!“. Denn endlich, sogar noch in diesem Leben, habe ich die Bewilligung einer Reha bekommen. Aus Sicherheitsgründen hat man tatsächlich die Schneckenpost gewählt. Das Schreiben hat vom 30. August bis zum 5. September (immerhin des gleichen Jahres) gebraucht, um von Hamburg nach Hamburg zu kommen. Am Montag soll es nun wirklich losgehen. Höchste Zeit also, sich erstens mit dem Gedanken an den unvermeidlichen Kurschatten vertraut zu machen. Und zweitens darüber nachzudenken, ob die Wohnung bei meiner Rückkehr noch die Chance hat zu stehen. Wahrscheinlich bleibt nicht viel außer dem Tagesbett, das der Sohn sehr in sein Herz geschlossen hat. So sehr, dass ich ihn jedes Mal daraus vertreiben muss, wenn ich mich erdreiste, mich zwischendrin einmal ausruhen zu wollen. Ich nutze den Platz aber auch nicht adäquat. „Mama, du hast schon wieder nicht ferngesehen! Weißt du nicht, dass man vom Lesen ganz eckige Augen bekommt? Das ist nicht gut für dich. Guck‘ doch wenigstens mal zehn Minuten!“
Weitere Objekte der Begierde sind meine Strümpfe - diese mache ich ihm zum Glück in diesem Monat noch nicht streitig. „Mama, ich bin Vladimir Putin und deine Strümpfe sind die Krim.“ Wer könnte einer solch‘ charmanten Ansage schon etwas entgegensetzen? Muddie jedenfalls nicht.

Mittwoch, 5. September 2018

Bestimmt gut gemeint

Selten habe ich einen so ungläubigen Blick gesehen wie gestern bei einem etwa dreijährigen Kind, das von seinem Vater aus DEM Kindergarten unseres Dorfes abgeholt wurde. Nein, dass es der Vater war, war nicht das Überraschende! Es war das, was er sagte. Er bot an, das Kind könne „doch mal einen schmeißen“. Die Verwirrung legte sich nicht spürbar, als er nachschob, es könne einfach mal was dafür mitbringen.

Montag, 3. September 2018

Aus der Werkstatt

Um die neuen Ersatzteile möglichst lange gewogen und funktionsfähig zu halten, ist es angezeigt, ihnen etwas zu bieten. Heute war es ein Ausflug nach Entenwerder. Der erste Ausflug seit dem Einbau. So wie es derzeit überhaupt viele erste Male gibt: mein erstes symmetrisches Röntgenbild, meine erste Banane und so.
Wann ich irgendjemandem das erste Mal eine drücke, weil er mir erzählt, ich sehe blass aus, steht noch in den Sternen. Lange wird es aber wahrscheinlich nicht mehr dauern. Wie bitte soll ich sonst aussehen mit einem mit Chance zweistelligen Hb-Wert und einer Sommerfrische, die aus einer Übernachtung an der Ostsee Anfang Juni bestand?



Sonntag, 2. September 2018

Rekonvaleszenz für Fortgeschrittene

Was der Genesung sehr förderlich sein dürfte, ist von seinem angehenden Ex-Mann zuhause gestellt und zu Scheidungsthemen angequakt zu werden. Besonders gut ist für die Gesundung, angefeindet und in die Ecke gedrängt zu werden, dass die einzige Chance, dem zu entkommen, das Ergreifen der Stützen und das Herausgehen aus der eigenen Wohnung ist. Was dann leider nicht schnell genug geht. Bevor ich einen Reha-Platz bewilligt bekommen habe, habe ich schon ein Reha-Ziel: nicht nur Ausdauer sondern auch Schnelligkeit zu trainieren. Nur so entkommt man dem Grauen.

Samstag, 1. September 2018

Für und Wider

So schön es auch ist, überraschend wieder in heimatlichen Gefilden zu sein, birgt die Präsenz im beschaulichen Dorf doch ein paar Nachteile: Es wird bewusst, was ich alles aus Gründen verpasse. Die Lange Nacht der Literatur, Harbour Front und so. Von der Teilnahme an Demonstrationen gegen Nazis, Fremdenhass und all‘ den Rotz will ich gar nicht sprechen. 
Auf der anderen Seite erhöht meine Anwesenheit hier die Begehrlichkeiten bei der Brut. Der Sohn mopst mir bei jeder Gelegenheit die Stützen, um damit halb laufend, halb fliegend durch die Wohnung zu turnen. Mein Argument, er solle doch die Vorgängermodelle für seine sportlichen Experimente nutzen, wird gerne mit „Die haben wirklich weniger Grip!“ abgetan. Die Tochter ist sehr neidisch auf den coolen Greifer, der mir laut der Physiotherapeutin erlaubt, auch „alles unter Kniehöhe“ aufzuheben oder zu bearbeiten. Ohne Not stellt die Tochter sich natürlich viel geschickter mit dem Objekt der Begierde an als ich.
Vermutlich weiß ich einfach nicht, wie gut es mir geht.