Sonntag, 20. Juni 2021

Tag 9

Endlich einmal ein Tag, an dem ohne schlechtes Gewissen stundenlang ferngesehen werden konnte. 

Spiel 1 brachte uns dazu, gegen unsere Überzeugungen anzufeuern. Eigentlich waren wir uns im Vorfeld - wenn auch eventuell aus unterschiedlichen Gründen - einig, dass wir den Ungarn ihrem Chef sei Dank nicht das Schwarze unter den Fingernägeln gönnen. Doch dann hatten wir die schöne Vorstellung, wie Didier Deschamps seine zurückliegende équipe während der Halbzeit in der Kabine zusammenstaucht. Ich steigerte mich hinein, wie er seinen Jungs nicht nur das Abendessen sondern auch die PlayStation vorenthält oder gar wegnimmt. Wie sich aufgrund letzterer Drohung die Augen gestandener Männer wie Paul Pogba mit Tränen füllen. Ja, ich gestehe, so niederträchtige Gedanken hatte ich, als ich Gesichtsausdruck und Körperhaltung des französischen Trainers sah. Zu Beginn der zweiten Halbzeit bestätigte sich meine Theorie, fand ich. Anschließend war mir der Ausgang nahezu gleichgültig. Ohnehin war das Catering umso wichtiger, als wir im Studio einen Ehrengast knapp  unterhalb des Maskenpflichtalters hatten. Dieser konnte mit Beerentörtchen und Sprühsahne (eine Öko-Schweinerei, die aus Gründen nur zu Fußballevents zulässig ist) über die ersten 45 Minuten gerettet werden. Danach beschloss er, der Pool auf dem Balkon habe ihm mehr zu bieten.

Auch Spiel 2 musste auf dem Esstisch detailgetreu nachgestellt werden. Es gab iberische Spezialitäten und die deutscheste Mahlzeit, die man sich in Asien vorstellen kann: Bockwürste mit Senf und Brot. Authentizitätsabzüge gab es lediglich für Beilage und Präsentation. Statt dreieckig geschnittener Toastscheiben waren es Brötchen (immerhin im Fußball-Dessin) und statt rechteckiger Pappen mit Abriss als Halter waren es Porzellanteller (immerhin in schwarz-rot-gold). Auch hier hatten wir in der ersten Halbzeit freundlicherweise Unterstützung des Under-Age-Spielers. Fast wäre das Glück perfekt gewesen. Wenn noch ein weiteres Tor gefallen wäre, hätte noch ein Feld beim taz-EM-Bingo abgestrichen werden können. So mussten wir uns mit Manuel Neuers Reklamationsarm zufriedengeben, der dort ebenfalls aufgeführt ist.

Spiel 3 erreichten wir damit sowohl satt als auch entspannt. Der juniore Ehrengast wurde durch unseren portugiesischen Fußballexperten ersetzt. Dieser hatte die vorangegangene Partie nicht etwa deswegen nicht in unserer Gesellschaft gesehen, weil er für die andere Mannschaft hielt oder Sanktionen des anderen Publikums befürchtete. Nein, vielmehr hatte er als einziger die Niederlage seiner Mannschaft bereits am Dienstag vorhergesehen („Die verlieren gegen Deutschland mindestens 3:0! Das ist gegen die für Deutschland leichter als gegen Frankreich.“) und das Ergebnis lakonisch zur Kenntnis genommen. Er war früher einfach nicht fitgespritzt. Besser spät als nie, dachten wir uns auch im Hinblick auf die Getränke. Da die Sonne irgendwo im Empire bereits untergegangen war, konnten wir unsere Hütchenspielerschiebereien aufgegeben und zu Prosecco umsteigen. Passte immerhin zum italienischen Schiedsrichter. Und zum Geburtstag meiner Mutter, den sie in Italien feierten. Ihre Enttäuschung war hoffentlich nicht allzu groß, dass an Tag 9 einfach noch kein Elfmeterschießen ansteht.




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