Mittwoch, 3. Oktober 2018

Nachlese

Ja, ich bin froh, wieder in unserem beschaulichen Dorf zu sein. Auch wenn es meinetwegen kein so herbstliches Setting sein muss. Die Tristesse beginnt spätestens dann, wenn der Blumenladen nur noch Alpenveilchen- und Heidekrautpflanzen anbietet, und ich mich dabei ertappe, aus Gründen fortwährend „Autumn Leaves“ zu summen. C’est une chanson qui nous ressemble. Moi, qui t’aimai, toi, qui m’aimais... la la la. 
Ich erfreue mich daran, wieder von Menschen umgeben zu sein, die gerade Sätze herausbekommen. Und ganz besonders daran, dass es sich um die eigenen Kinder handelt. Die Rückschau klingt hochnäsig und elitär, dabei ist sie nur realistisch. Es geht gar nicht darum, dass Bingoabende nicht die höchste Form der Unterhaltung seien. Ich zitiere auch nur, wenn ich sage, ein Tisch der Cafeteria hätte nicht mit „Kontaktgruppe Niere“ markiert sein sollen, sondern mit „Kontaktgruppe Psychatrie“. Ich hatte nicht damit gerechnet, während der Freizeit angeregte Diskussionen über Kierkegaard, Kant und die Kritik der reinen Vernunft zu führen. Aber eben auch nicht damit, dass mir dort so viel Kleingeist, Borniertheit und Ausländerfeindlichkeit begegnet. Anfangs habe ich noch auf sie eingeredet, Argumente gebracht. Durch die stetige Wiederkehr der gleichen krausen Ideen habe ich irgendwann erkannt, meine rhetorischen oder pädagogischen Fähigkeiten sind nicht ausreichend ausgebildet, um irgendetwas zu bewegen. Zugegeben, Bewegung fällt in der Reha schwer - und ganz besonders, wenn es mentale meint. Was mir wiederum bis heute nicht in den Kopf will, ist folgender Widerspruch: Ausländern immer und überall Schmarotzen vorzuwerfen, während man selbst mindestens drei Wochen in jedweder Hinsicht auf Kosten der Allgemeinheit lebt. Wenn ersteres zuträfe, müsste die ganze Bude doch voll mit Menschen mit Migrationshintergrund sein. Ist sie aber nicht. So überhaupt nicht. Ich behaupte, es sind mehr Sachsen als andere Ausländer in Damp. Wobei auch deren Anteil im einstelligen Bereich liegen dürfte.
Ein besonderes Highlight war zum Ende des Aufenthalts die Veranstaltung „Die Geschäftsführung lädt ein“. Nachdem ich meine anfängliche Enttäuschung überwunden hatte, dass dazu keine Schnittchen und Getränke gereicht wurden, entwickelte sich das Ganze recht aufschlussreich. Die Geschäftsführung war vertreten durch die Chefärztin für Psychosomatik und eine Dame aus der Qualitätssicherung. Erstere strich sich nervös durch die strähnigen langen Haare, Zweitere schrieb eifrig in ihrem Notizbuch mit, wenn Beschwerden geäußert wurden. Und sie wurden geäußert. Das Bett sei dem Schlaf nicht förderlich (stimmt, aber es muss auch Gründe geben, derentwegen man sich auf zuhause freut), warum es nur zwei Kopfkissen gebe, das Hin und Her-Laufen zwischen den Gebäuden anstrengend, das Klo im Bewegungsbad stinke (stimmt auch, dann hält man sich vielleicht fern?), ständig habe man andere Therapeuten und das Essen! Warum es zum Frühstück kein frisches, geschnittenes Obst gebe, dass es an Gesundem mangele, dass der Nachtisch zumeist ein gesüßtes Produkt aus dem Becher sei, dass das Mittagessen zu heiß aufgewärmt werde, dass es zu kalt serviert werde, dass das Essen zu den falschen Zeiten stattfinde und - jetzt kommt das Grauen! - dass es immer den gleichen Salat gebe. Shocking! Bei dem sich das Dressing auch noch unten befinde (dafür hat der Herrgott die Gabel erschaffen). Meine Nachbarin raunte mir zu: „Hier meckern sie und zuhause essen sie den Kitt von den Fenstern.“ Dem konnte ich ausnahmsweise zustimmen, auch wenn die Quellenlage der heimischen Essgewohnheiten nicht eindeutig ist. 
Wie gesagt, alles in allem bin ich sehr froh, diesem Quatsch entkommen zu sein und ihn durch einen anderen zu ersetzen. Und doch gibt es Dinge, die ich vermisse. Da ist zum einen der Panoramablick auf die See aus meinem Zimmerfenster, der sich zu jeder Tageszeit lohnte. Und da ist zum anderen die dufte Tagesstruktur, die sich genau unserem Biorhythmus anpasste.

Sie nennen es Abendessen, wenn die Kinder aufstehen.

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