Mittwoch, 22. Juli 2015

Noche sorpresa

Irgendwann erwähnte ich wohl, dass ich unser beschauliches Dorf mag. Besonders schön ist es im Sommer. Wie vermutlich jedes Dorf. Aber unseres noch mehr. Zum einen weil es noch übersichtlicher wird, wenn ein Großteil seiner Einwohner verreist ist. Zum anderen weil sich ein Hauptteil des Lebens in unserem Park abspielt. So auch gestern Abend.
Ich saß auf dem Treppenabsatz unseres Eingangs und las die letzten Seiten meines Buches, während im Backofen die vegetarische Lasagne vor sich hin brutzelte. Der Abendessenswunsch des Sohnes - ähnlich der Jahreszeit angepasst wie der Wunsch seiner Schwester am Vorabend. Ohne Selbstüberschätzung kann ich sagen, dass ich diese, meine Komposition sehr gut beherrsche. In dieser Situation ignorierte ich natürlich sämtliche mobile devices. So kam einer der Kollegen, die gerade ihre praktische Segelprüfung an der Alster bestanden hatten, freudestrahlend und für mich unangekündigt vorbei. Sein Feierbier hatte er sich selbst mitgebracht, gegen ein wenig Lasagne hatte er nichts einzuwenden. Auf unserem sizilianischen Balkon herrschte untypische Stille, selbst die Mücken schienen im Urlaub zu sein. Irgendwann fing der Nachbarssohn mit seinen musikalischen Experimenten an. Das zerstörte zwar die Stille, war aber mindestens genauso schön. 
Alles hat ein Ende. So verabschiedeten wir uns noch ein wenig Büroklatsch ventilierend vor der Tür, als ein alter Mann auftauchte, den ich im ersten Moment für einen Penner (sorry, Kinder, Eure Mutter ist und bleibt politisch unkorrekt!) hielt. Schlotternde Kleidung, abgetragene Schuhe, wirre Haare, ein abgestoßener Rollkoffer und eine große Plastiktüte, wer käme da nicht auf die Assoziation obdachlos? Nicht ganz ins Bild passte, dass er den Nachnamen eines Nachbarn fragend wiederholte. Ich wies ihn darauf hin, dass er vorne den entsprechenden Klingelknopf drücken solle. In nicht muttersprachlichem Idiom erklärte er uns, dass er das schon versucht habe, aber niemand reagiere. In typisch südländischer Manier redete er hauptsächlich mit meinem Kollegen, der erwartungsgemäß noch weniger zur Lösung des Problems beitragen konnte als ich. Irgendwann - auch ich habe manchmal lichte Momente - schlug ich vor, den Nachbarn anzurufen. Der alte Mann warf ein, er habe die Nummer nicht. Ich konnte großspurig erklären: "Aber ich!" Die Festnetznummer funktionierte nicht und bei der ersten Mobilnummer, die ich wählte, musste ich zerknirscht feststellen, dass ich bei jemand komplett unbekanntem gelandet war. Aufkommende Panik. Immerhin, die zweite Nummer aus dem Speicher brachte den Durchbruch: ich erreichte den Nachbarn und er schlief entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten noch nicht. Blöd nur, dass er sich im Urlaub im Ausland befand; genau dort wo sein Onkel, so weit hatte ich mir unterdessen eins und eins zusammengereimt, gerade herkam. Als Fräulein vom Amt vermittelte ich das Gespräch zwischen den beiden, indem ich mein Telefon weiterreichte. Es folgte ein untypisch-sprachloser Dialog in nicht ganz fremden Zungen, in dessen Verlauf oft das Wort 'Post' fiel (wie konnte der arme Mann auch wissen, dass es selbst im zackigen Deutschland auch Poststreiks gibt?) und an dessen Ende ich mein Telefon noch einmal überreicht bekam. Der Nachbar versprach, sich gleich noch einmal zu melden. Die südländische Auslegung des Wortes 'gleich' zog sich zäh hin. Der Kollege wartete netterweise mit mir. Endlich klingelte mein Telefon. Die ferne Familienkonferrenz war beendet. Eine Tirade über den kindischen Verwandten erging über mich. Er sollte ins nahegelegene Hotel. Auch wenn es nur über die Straße war, hegte ich Zweifel, dass der etwas wirre Mann, seine Nachtstätte finden würde. Auf dem Weg zur U-Bahn eskortierte der Kollege den Touristen wohlbehalten zum Hotel. Das anschließende Drama an der Hotelrezeption möchte ich mir gar nicht vorstellen.
Wer sagt, dass der Sommer in der Stadt ereignislos und langweilig sei?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen