Mittwoch, 1. Juli 2020

Halbzeitanalyse

Auch wenn meine Zeitrechnung dieses Jahr Mitte März steckengeblieben ist, musste ich jetzt feststellen: ein halbes Jahr 2020 ist bereits vorbei. Diese Erkenntnis relativiert einerseits, warum es im Frühling schon so unglaublich warm ist. Andererseits führte sie auch dazu, dass ein kritischer Blick durch das hiesige Kühlschrankangebot einiges für die Tonne freigab. Dass ich noch nicht im Sommer angekommen bin, liegt vermutlich vor allem daran, dass wir ein gerades Jahr haben und dennoch im Juni keine EM oder WM gestartet ist. Wie sollen da saisonal typische Gefühle aufkommen?
Die Bilanz dieses Jahres fällt wohl - wie bei fast allen - bestenfalls durchwachsen aus. So will ich mich gar nicht lange mit lästigen Einzelheiten aufhalten. Meine aktuelle Devise lautet ohnehin „Zweckoptimismus 3.0“. Ich sehe einfach nur noch die Vorteile der derzeitigen Situation. Alles andere blende ich großflächig aus. Ich freue mich über meinen Balkon und über die Pflanzen dort, die meine Dauerpräsenz nicht allzu schlecht zu finden scheinen. Ich freue mich über die Kurzarbeit, weil sie mir die Möglichkeit gibt, Wochenenden auch mal früher als freitags gegen 18 Uhr zu beginnen. Ich freue mich, fast seit Beginn des Lockdowns die Tochter wieder hier zu haben. Die Freude liegt wirklich in ihr begründet und nur zu ganz kleinen Teilen in der Tatsache, dass weniger Unterhalt meine Gehaltseinbußen kompensiert. Ich erfreue mich auch an erzwungenen Urlaubstagen und am eigenen dilettantischen Tischtennisspiel in der Mittagspause. Sogar am iPhone, das im Gegensatz zur benachbarten Apple-Watch beim Spielen die Schritte mitzählt, mich aber dennoch gouvernantenhaft ermahnt, letztes Jahr um diese Zeit sei ich mehr in Bewegung gewesen. Selbst sein Unwissen belustigt mich. Und überhaupt: die Freude an den kleinen Dingen, wie Sonnenschein, Ruhe, Kniffelspiel und Trosthuhn. Ich erfreue mich an den vielen Komplimenten, die ich derzeit bekomme. Gestern sagte die Tochter noch, ich habe aber schön braune Füße. Ein Freund fand außerdem gestern, mein Gesicht wirke unglaublich entspannt. Am Wochenende sagte mir wiederum jemand, „Corona bekomme mir, ich sehe blendend aus“. Das alles freut mich umso mehr, als ich eigentlich dachte, über die Zeit alt und fett („Mama, das heißt dick!“) geworden zu sein. Am allermeisten freue ich mich, mich neben Home Office nicht mit Schulaufgaben und Kinderbetreuung herumzuschlagen zu müssen - dass ich erwachsene Kinder habe. Wen stört da schon, nachts hochzuschrecken, weil plötzlich die Frage im Kopf auftaucht, ob der Sohn am Vortag wohl seinen Prüfungsantrag unterschrieben habe. Der Morgen brachte Klärung: hatte er nicht - meine Frage war demnach nicht ganz unberechtigt. Wir verfielen gleichermaßen in Panik. Er, weil er mich vorher großspurig für meine Bevormundung kritisiert hatte und nun wohl einsah, warum. Ich, weil ich es so ärgerlich fände, wenn ihm die Prüfung wegen eines kleinen Formfehlers verwehrt würde. Zum Glück löste sich alles durch einen Anruf bei der Behörde (Er rief an! Fast klaglos und nur nach zweimaliger Aufforderung.), die sich überraschend kooperativ zeigte. Und ich kann nicht einmal sagen, von mir habe er es nicht. Mein neues Halbjahr 2020 fing nämlich damit an, dass ich am Morgen eine Mail meiner Anwältin bekam und diese offenbarte, dass ich die amtlichen Scheidungsdokumente („Bewahren Sie diese unbedingt in Ihren Unterlagen auf“ - ein Garant fürs Verschwinden) in meiner Unordnung nicht finden kann. Manchmal ist selbst mein Zweckoptimismus am Ende.

(Irgendeine meiner volljährigen Feng Shui-Beraterinnen hat mein Zimmer umarrangiert. Zu seinem Vorteil, versteht sich.)

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