Samstag, 4. Januar 2020

In der Zielgeraden

Passend zum ersten Arbeitstag des Jahres kündigte ich dem Chef an, ich werde Ende Januar einen Tag Urlaub nehmen, um ein paar Minuten am Haus der Gerichte in unserem beschaulichen Dorf zu verbringen. Zum Glück feixend meinte er: „Ach ja, dann bist du ja eine Abgelegte.“ Genauso feixend bejahte ich und antwortete, dass ich genau deswegen auch meinen Resturlaub aus dem Jahr 2019 direkt anschließend nehmen werde. Das hat er nun davon! Ihm und mir habe ich erspart, im Kommentarfeld des Urlaubsantrags „Wundenlecken“ oder ähnliches anzugeben. Es reicht wohl, dass ich beim 21. Januar auf ebendiesem Feld nachfragte, ob es für Scheidungen genau wie bei Heirat einen Tag Sonderurlaub gebe. Ein bisschen Spaß muss sein. Am gleichen Abend klingelte es bei uns an der Tür. Der Sohn, noch traumatisiert von vorangegangenen Erfahrungen im letzten Sommer, beschwor mich, nicht an die Tür sondern lieber in Deckung zu gehen. Es fiel mir schwer, aber ich habe es geschafft! Daraufhin bimmelte das Telefon des Sohnes. Ob er nicht zuhause sei, wollte sein Vater wissen. Doch, antwortete der Sohn, aber wir wollten nicht öffnen. Sein Vater ermahnte ihn, an die Tür zu kommen, er habe einen Brief für mich. Der Sohn erbarmte sich, nahm besagten Brief in Empfang und verabschiedete seinen Vater in kürzestmöglicher Zeit. Vorsichtig erkundigte ich mich, ob die väterlichen Weihnachtswünsche und -geschenke vielleicht etwas sparsam ausgefallen seien. Ich erfuhr, dass es keine gegeben habe. Also wieder einmal Zeit für mein geübtes Pokerface, das ich allerdings durch die Bemerkung, das müsse der Sohn verstehen, so klamm wie sein Vater nun sei, vollständig zerstörte. Manchmal habe ich mich doch weniger im Griff, als wünschenswert wäre. Beim Brief handelt es sich um ein Schreiben, das der angehende Ex-Mann noch unterschreiben musste und das ich ihm zur Vermeidung ebensolcher Szenen mit der Post zugeschickt hatte. Die Portokosten der deutschen Post mögen zwar übertrieben hoch sein, aber diese 80 Cent gab ich gerne. Auf meinen Umschlag hatte er mit einem grünen Lackstift in bestmöglicher Schrift (was in diesem Fall nicht allzu viel heißt) Folgendes geschrieben:
„Hallo Antje, ich wünsche Dir ein schönes und gesundes (fast) Neues Jahr 2020, Dein Holger* (*Name von der Redaktion geändert)“
Noch überraschender als die Schönschrift fand ich das „Dein“, denn ich hätte schwören können, dass diese Zeiten schon seit mindestens einem Jahrzehnt vorbei sind. Ob er weiß, dass ich letzthin eine - unterdessen viel gehörte - Playlist erstellt habe, deren Haupttitel „Ne reviens pas“ (avec l’aimable autorisation du fils) heißt?

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